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  • realfiktion
  • 20. Dez. 2024
  • 2 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 31. Jan.

(1) “Travel narrows the mind.” (Chesterton)

(2) Faktisch falsch, aber wahr: knapp die Hälfte der sieben Millionen sind fliegende Straßenhändler, die die ganze Stadt in einen laut pulsierenden Ramschmarkt verwandeln, in jeder Straße, auf jedem Bürgersteig, in jeder Einfahrt, in der U-Bahn, in Parks, auf Kreuzungen. Knapp die andere Hälfte sind Polizei und Securityleute, die den Reichtum des winzigen Rests schützen, selbst in Einkaufszentren in schwerer Riot Gear. Auf der Schauseite bunte Murals, lauschige Patios mit Cafébetrieb, aber schon um die Ecke Türen und Fenster bis zum dritten Stock vergittert, fast jedes Haus mit Natodraht und Metallspitzen eingedeckt, Kameras, massive Stahltore vor Gated Communities, und überall der Schrei „Cerrado! Privado! Prohibido!“ – Santiago verweigert sich. Pablo Nerudas Anwesen könnte auch eine US-Botschaft sein.

(3) Wenig kosmopolitische Stadt. Hier kommt anscheinend fast keine Kunst oder Musik aus anderen Kontinenten an, keine einzige Buchhandlung führt fremdsprachige Titel, nichtmal am Flughafen gibt es internationale Presse, Orientierung und Informationen höchstens auf Spanisch und meistens gar nicht – Konzepte wie „ortsfremder Besucher“ oder „Weltsprache Englisch“ oder auch nur „auf Hilfe angewiesener Gast“ erzeugen Unwillen. Kaffee grässlich. Santiago verweigert sich.

(4) Unangenehm oft aufs eigene Deutschsein zurückgeworfen – einerseits wegen dem Wiedererkennungswert: Kaffee daheim oft genauso schlecht, und was in Deutschland der arabische oder afrikanische Flüchtling, ist hier der „Veneco asqueroso“, auch hier besorgte Bürger mit Überfremdungsangst, der Klassiker.

(5) Andererseits hässliche Zwangsgedanken darüber, wie man Dinge deutscher organisieren müsste: die Zentralbusbahnhöfe der Stadt zerbersten vor Menschen, tausende auf engstem, dunklen Raum, nur dass alle noch drei Koffer, vier schreiende Kinder und Nutzvieh mit sich schleppen, dazwischen wirbeln schreiende Wasserhändler, schreiende Ticketverkäufer, schreiende Busfahrer, Trickdiebe und Musiker. Fünfzig Abfahrtbereiche, hundert Schalter, von (schreienden) Massen belagert, ein einziger 27-Zoll-Infobildschirm (Schriftgröße: Beipackzettel) und niemand, der Fragen beantworten kann, stattdessen einfach irgendwo eine Marienstatue, man regelt es übers Gebet. Santiago verweigert sich. Und ich werde in Richtung fünfzig offenbar lärmempfindlich.

(6) Pluspunkte: keine Mücken, nachts Abkühlung auf 20 Grad, und eine kleine Cruising-Bar. Geradezu beglückt, dass sie selbst in einer Stadt, in der sehr wenig selbstverständlich ist, exakt so funktioniert wie überall sonst: Universeller Code, die Art von beruhigendem Standard, der auch weltweite Hotelketten so komfortabel macht – nur dass das Personal hier viel weniger anhat als im Mercure.

(7) Vor dem Haus seit heute ein schmuddeliger Flohmarkt für Antibiotika, Spitzenunterhöschen und Heavy-Duty-Gartenwerkzeug. Braucht jemand was?


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